Prof. Valentino Klepetulja

Seit der Abfassung meiner „Neuigkeiten aus der Mongolei“ ist ein Jahr vergangen und meine Stammleser fragen sich, wohin es mich verschlagen haben könnte. Meine zur Lernzeit gewordene Zeit als Lehrer in der Mongolei- darauf habe ich vor einem Jahr hingewiesen- dauert unverändert an und ich erfreue mich an den fruchtbaren Diskursen mit den mongolischen Kollegen und Studenten.

Bei der Erörterung der politischen Situation in Europa – die Ausnahmesituation durch die Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge hat bei diesen Diskussionen einen breiten Raum eingenommen – haben wir bei dem Versuch, den derzeitigen geistigen Status Europas zu analysieren anthropologische Gesichtspunkte einbezogen und sind hierbei auf spirituelles Gebiet gelangt. Dies hat sich folgend entwickelt:

Es war und ist meinen mongolischen Gesprächspartnern weiterhin unverständlich, wie die überwiegend positive Einstellung der Europäer zur wirtschaftlichen und politischen Integration, die sich im Zusammenschluss von 28 Staaten zur Europäischen Union manifestiert hat, anscheinend sich umgekehrt hat in nationale Sehnsüchte mit den Effekten der Abgrenzung und der Verfolgung von Eigeninteressen. Die einfachen und egozentrischen Lösungsvorschläge der Nationalisten stellen eine breite Masse leichter zufrieden als ein politischer Diskurs, der den Komplex der vielfältigen und vielschichtigen Probleme im Auge hat und sie gesamteuropäisch, das heißt unter Beachtung der Interessen aller Staaten lösen will. Die Diskussionen der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union für Unionsbürger und des Zuzuges von Klima-, Wirtschafts- oder Kriegsflüchtlingen sind die letzten Höhepunkte des Unvermögens, mit Herz und Hirn zu gemeinsamen Lösungen zu kommen.

Unsere Diskussion der diesbezüglich allgemein bekannten Gründe und Standpunkte führte uns zu einer entwicklungsgeschichtlichen Schau des europäischen Kontinents von den urzeitlichen Familien über die Volksstämme zu den monarchischen Herrschaftsstrukturen und schließlich den neuzeitlichen Staaten, deren Staatsoberhäupter zwar heute noch zu einem hohen Prozentsatz Monarchen sind, aber demokratische Verfassungen haben. Wir sehen diese viele zehntausende Jahre dauernden Phasen im Zusammenhang mit der Entwicklung des menschlichen Gehirns. Je mehr sich dieses entwickelte desto intensiver und größer wurden die sozialen Gemeinschaften der Europäer. Die Herausbildung eines supranationalen Staatenbundes ist demnach im Kontext mit den kognitiven und emotionalen Fähigkeiten der Bevölkerung zu sehen und somit als Ergebnis der langsamen aber stetigen Fortentwicklung des menschlichen Gehirns. Diese Gedankengänge führten zum Umkehrschluss, dass gegenläufige Entwicklungen eine geistige Rückbildung darstellen, zumindest von Teilen der Gehirnfunktionen. Ein Zerfall der Europäischen Union wäre demnach als Ergebnis des Verlustes von Gehirnsubstanz anzusehen. Anthropologen vertreten jedoch eine stetige Fortentwicklung des Gehirns vom Anbeginn der Menschheit. Diese Auffassungen über den geistigen Rückfall der Europäer sind daher meines Erachtens überzogen und lassen andere Gesichtspunkte unberücksichtigt. Ich vertrete die Ansicht, dass das Zusammenleben in sozialen Gemeinschaften abgesehen von den kognitiven Voraussetzungen hierfür von weiteren Faktoren bestimmt wird. Beispielsweise führe ich an: Der Neugierde auf den Nachbarn im näheren und weiteren Umkreis, deren Lebensweisen, Sprachen und Traditionen, der Akzeptanz und des Verständnisses für Menschen anderen Aussehens, anderer Religion oder anderen Bildungsniveaus, des Ausmaßes der Zuwendung zu den Menschen, die unter ungünstigeren Bedingungen leben und dgl. mehr. Diese sozialen Kompetenzen haben eine positive und eine negative Dimension, das heißt beispielsweise, einem mitmenschlichen Verständnis steht die Ich- Bezogenheit mit dem Unvermögen gegenüber, auf die Bedürfnisse anderer Menschen einzugehen. Je nachdem welche der Dimensionen überwiegt, wirkt sich dies positiv oder negativ auf das Mit-, Neben- oder Gegeneinander aus. Die Gefühle bestimmen weitgehend das Verhalten und ist die Ratio oft nicht stark genug, die Emotionen zu lenken. Beim heutigen auf den reinen Wissenserwerb fokussierten Bildungssystem haben die dem Gefühlsbereich zuzurechnenden Kompetenzen keinen Stellenwert und ist deren Entwicklung von außerschulischen Beeinflussungen, wozu in erster Linie die familiäre Erziehung gehört, abhängig.

Die politischen Parteien, die mit ihren Programmen und ihrer Propaganda vorwiegend die Gefühle ansprechen, sind bekanntlich bei Wahlen erfolgreich. Genauso offenkundig ist es, wohin der Weg führt, wenn sie negative Emotionen propagieren und die politischen Mitbewerber unfähig sind, den Wählern positive Aspekte entgegenzusetzen. Destruktive, populistische, unmenschliche, egoistische politische Postulate finde ich dennoch nicht als Rückentwicklung geistiger Fähigkeiten, sondern als Überlagerung des erreichten geistigen Entwicklungsstandes durch ich- bezogene Emotionen.

Wie kann solchen Situationen entgegengewirkt werden oder überhaupt das Überhandnehmen negativer Emotionen verhindert werden? Nach dem Ergebnis der Diskussionen mit meinen mongolischen Freunden ist es wesentlich, positive Gedanken und Verhaltensweisen zu propagieren. Über Betreiben von Wissenschaftlern wurde in der Mongolei für Printmedien, sowie Fernseh- und Rundfunkstaaten dekreditiert, dass sie wöchentlich mindestens zehn Prozent ihrer Meldungen auf positive, das Zusammenleben der Menschen fördernde Ereignisse abstellen müssen. Sollten sie dem nicht nachkommen, werden ihnen die staatlichen Zuschüsse entzogen. Das Postulat, positive Ereignisse und Entwicklungen zu verbreiten, hat sich interessanterweise auf die social medias übertragen und die dort üblichen Hassbotschaften zunehmend zurückgedrängt.

In diesem Zusammenhang wurde in unseren Diskussionen hervorgehoben, wie viele Geistesgrößen in vielen Ländern der Erde auf philosophischen, soziologischen, religiösen und übrigen geisteswissenschaftlichen Gebieten ihre Gedanken über das friedliche Nebeneinander der Völker zu Papier gebracht haben und fortwährend bringen, die meist nur in ihren Ländern gelesen werden. Aus diesem Grunde wurde jetzt ein wissenschaftliches Projekt für eine weltweite arbeitsteilige Aufarbeitung der großen der Menschheit förderlichen Gedanken initiiert, dessen Ergebnisse sodann in einem zweiten Schritt in allen Ländern ausgetauscht werden sollen. Die enge Sicht auf den eigenen Kulturkreis würde hierdurch erweitert werden.

Wir haben auch die Fortentwickelung des menschlichen Gehirns erörtert, sind dabei aber zu keinen Ergebnissen gekommen. Vor Allem lässt sich nicht abschätzen, mit welcher Geschwindigkeit dies geschehen wird. Der geistige Fortschritt zum Beispiel der letzten zwanzigtausend Jahre ist wissenschaftlich nachvollziehbar, die jeweiligen Stufen der menschlichen Entwicklung auf die Zukunft linear umzulegen, ist aber sicher falsch. Wir waren uns nur darüber einig, dass die zukünftigen Stufen immer kürzer werden, da die stetige Gehirnentwicklung jeweils kürzere Phasen ermöglichen. Vielleicht ist schon in zehntausend Jahren mit einer wesentlichen Erweiterung unseres Gesichtsfeldes zu rechnen. Inwiefern die sozialen Kompetenzen hierbei mitwachsen, und zwar parallel, schneller oder langsamer, lässt sich gleichfalls nicht abschätzen. Das heißt beispielweise, dass der Zeitpunkt einer zentralen Administration aller Länder der Erde und damit eines weitgehend gewaltlosen Zusammenlebens der Völker nur erhofft, aber zeitlich nicht absehbar ist.

Eine Prognose darüber zu stellen, in welchem Zeitraum die Menschheit ihre Vollendung erreicht haben wird, wagte gleichfalls niemand zu stellen. Nicht einmal den Zustand dieser unserer Vollendung zu artikulieren, haben wir gewagt. Wir haben uns damit getröstet, dass die größten menschlichen Geister dies bis jetzt nicht geschafft haben, was uns zur Erkenntnis zwingt, dass die Fragen der Endzeit einen Erkenntnisstand erfordern, der uns sicher noch lange nicht gegeben sein wird, abgesehen von den Fragen der Endlichkeit des Universums oder überhaupt eines Lebens nach dem irdischen Tod. Damit sind wir zu den eingangs erwähnten spirituellen Fragen gelangt, deren Beantwortung nach unserem derzeitigen geistigen Horizont nur spekulativ erfolgen kann.